Oberlandesgericht (OLG) beendet Fiasko der Staatsanwaltschaft Köln und der Polizei Köln
Am Morgen des 18. Februars fand im Gerichtssaal 301 des Oberlandesgerichts Köln ein Trauerspiel des jüngeren Justizwesens ein vorläufiges Ende (Aktenzeichen III-1 RVs 188/19). In diesem holzvertäfelten Saal residierte einst der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone, der in über 550 Verfahren NS-Verbrechen verhandelt hat. Das OGH-BZ hat weithin anerkannte Pionierarbeit im Strafrecht geleistet. Ob das OLG sich dem Saal des OGH-BZ würdig erweist, bleibt mit Fragezeichen behaftet. Die Staatsanwaltschaft Köln scheiterte kläglich.
  
Zwei Kamerateams von RTL und WDR und vielleicht 20 Angehörige, Unterstützer_innen und Zuschauer_innen interessierten sich für dieses ungewöhnliche Verfahren. Sven W. war angeklagt der Körperverletzung, des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte_innen und der Beleidigung. Die Sache hatte ein fast vierjähriges Vorspiel, das vielfach in Rundfunk, Fernsehen und Presse seinen Niederschlag fand. Der Verlauf ist nicht mal eben erzählt. Mehrere Aktenordner füllen die Verfahrens- und Presseberichte. Dennoch an dieser Stelle ein kurzer Abriss zum Verständnis des Urteils.
Sven W. feierte den Christopher Street Day (CSD) am 3. Juli 2016 in Köln mit rund einer Millionen Menschen in bester Laune. Angetrunken suchte er die Toilette der McDonalds-Filiale gegenüber dem Dom auf. Dort schlichtete er einen Streit zwischen einem noch heute unbekannten Mann und zwei Frauen, die sich in die Schlange vor der Männertoilette eingereiht hatten. Mitarbeiter_innen hielten Sven W., der sich auch nicht in jeder Hinsicht vorbildlich verhalten hat, für den Übeltäter und riefen die Polizei.
Nachdem Sven W. auf die Ansprache eines Polizisten nicht reagierte, versetzte dieser ihm einen Blendschlag. In Folge des heftigen Schlags ging Sven W. bewusstlos zu Boden. Wer Sven W. leibhaftig sieht, hat einen schlaksigen jungen Mann vor Augen, den jede robuste Ohrfeige zu Boden streckt. Er konnte nach Hinzutreten weiterer Polizeibeamt_innen erst mit Schmerzreizen geweckt werden. 
Nach der Festnahme wurde der gefesselte Sven W. in ein Fahrzeug der Polizei verbracht – zwischenzeitlich noch mit Tritten und Schlägen bedacht. Während der Fahrt drückte der neben ihm auf der Rückbank sitzende Polizist seinen Schädel mit Arm und Ellbogen gegen die C-Säule des Fahrzeugs und beleidigte ihn: „Das brauchst Du doch, du dumme Schwuchtel!“ Der hilflose Sven W. erwiderte: „Nazi“, „Arschficker“, „Wichser“ und „Was soll das Ganze bloß?“
Die Misshandlungen setzten sich auf der Polizeiwache fort, was für die vor dem OLG verhandelte Revision ohne Bewandtnis war. Sven W. konnte von Glück sagen, dass eine junge Polizeischülerin den unglaublichen Mut aufbrachte, den Korpsgeist der Polizei zu durchbrechen, und seine Version weitgehend bestätigte. Dass sie ihr Ausbilder wegen der Verletzung der Omertà durch die Prüfung fallen ließ und sie sich in den Polizeidienst zurückklagen musste, steht auf einem weiteren Blatt des Polizeiskandals. Das Landgericht (LG) hat festgestellt, dass sämtliche Taten gegen Sven W. rechtswidrig waren; ihm stand mithin das Recht auf Notwehr gegen die „tatkräftigen“ Polizisten zu.
Ungewohnt für ein Revisionsverfahren trug die berichterstattende Richterin den Sachverhalt aus dem Urteil des LG vor. Der Vorsitzende erteilte dann Sven W. das Wort. Er sollte berichten, wie es ihm ergangen sei. Sven W. schilderte ein fast vier Jahre währendes psychisches Märtyrium, das mit der Polizeigewalt gegen ihn begann und durch die jahrelangen Verfahren der Staatsanwaltschaft weiter genährt wurde. Er sei sogar von der psychischen Behandlung einer städtischen Klinik ausgeschlossen worden, weil er als Täter angeklagt gewesen sei. Einen ordentlichen Beruf habe er nicht erlernen können, sein Studium abbrechen müssen. Er arbeite jetzt ehrenamtlich beim DRK. Vier Jahre seines Lebens und die Zukunft des jungen Mannes sind zerstört durch Polizeigewalt und Verfolgung durch die Justiz.
Das OLG hat Mängel am Urteil des LG erkannt. Angezeigte Verbesserungen an der Urteilsfindung und –begründung des LG zu den Tatbeständen der Körperverletzung und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte führten materiell jedoch zu keinem anderen Urteil als den Freisprüchen des Angeklagten zu beiden Taten. Die Freisprüche sind damit rechtskräftig. Das ist zunächst ein großer Erfolg und eine enorme Erleichterung für Sven W.
Hinsichtlich des Tatbestands der Beleidigung sahen die drei Richter_innen am OLG hingegen einen Mangel am Urteil. Das Landgericht habe sich unberechtigter Weise auf Notwehr und einen außerrechtlichen Notstand berufen. Eine Beleidigung könne nicht als Notwehr durchgehen, da sie nicht geeignet gewesen sei, die rechtswidrige Tat des Polizeibeamten zu verhindern. Nur stand dem Opfer der Polizeigewalt keine andere Gegenwehr zur Verfügung, die den Angriff hätte abwehren können. Offenkundig war es für das Opfer der einzige Ausweg, den Täter – auch durch Intervention der mitfahrenden Polizist_innen – mit dem härtesten, ihm verfügbaren Mittel, also Beleidigungen, von weiteren Misshandlungen abzuhalten. Der Verteidiger machte ebendies geltend. Der Ausruf „Nazi“ in Verbindung mit „was soll das Ganze bloß“ sei aus der subjektiven Sicht des Angeklagten sehr wohl als ein Weckruf an die Polizeibeamt_innen geeignet gewesen, den Täter von der Gewalt und den Beleidigungen abzubringen. Das Gericht folgte dem nicht. Die Beleidigungen blieben allein deshalb straffrei, weil sie wechselseitig erfolgten und das Gericht unter Würdigung der Umstände von einer Strafe absehen konnte.
Wer also wehrlos den Schikanen der Peinigenden ausgeliefert ist, darf um Ablassen anflehen; eine Reaktion wie „Du Arschloch, lass mich los“ auszusprechen, bliebe für das Opfer hingegen strafbar. Wer beleidigt wird, kann folgenlos die Faust im Gesicht des_r Täters_in landen, um weitere Beleidigungen zu unterbinden. Die niederschwellige und harmlose Tat der Beleidigung gewährt uns ein Notwehrrecht mit Hilfe brutaler Gewalt. Die brutale Gewalt gewährt uns kein Abwehrrecht mit Hilfe der Beleidigung, selbst wo uns kein anderes Mittel zur Verfügung steht. Hätte sich Sven W. zufällig befreien können und dem schikanierenden Polizisten mit einem Schlag außer Gefecht gesetzt, wäre Notwehr gegeben gewesen.  
Die Einschätzung des OLG mag dem Prüfschema der Jurisprudenz entsprechen. Überraschen muss, dass die Menschenwürde und ihr absoluter Schutz durch das Grundgesetz nicht der Erwähnung wert waren. Nichts verletzt die Würde des Menschen so sehr, ohne Widerstand erdulden zu müssen, seiner Menschenwürde beraubt zu werden. Dies kann nicht Recht sein. Das Grundgesetz spricht in den Artikeln 1 und 2 eine gänzlich andere Sprache; in der Verhandlung fand eine solche Überlegung keinen Widerhall.
Das OLG hat die Staatsanwaltschaft vor und während der Hauptverhandlung mehrfach angehalten, die Revision zurückzunehmen. Die Gründe lagen zum einen in der Erfolgslosigkeit der Revision hinsichtlich der Tatvorwürfe der Körperverletzung und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte_innen und zum anderen in der Belanglosigkeit der Beleidigungen. In § 147 Absatz 1 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, die für Staatsanwälte_innen bindend sind, heißt es: Der Staatsanwalt soll ein Rechtsmittel nur einlegen, wenn wesentliche Belange der Allgemeinheit oder der am Verfahren beteiligten Personen es gebieten und wenn das Rechtsmittel aussichtsreich ist. [Hervorhebung d. Verf.] Die prozessführende Oberstaatsanwältin hätte hierzu bis zu ihrem Schlussantrag Gelegenheit gehabt. Sie führte „rechtliche Gründe“ an, dies nicht zu tun, die in der Verhandlung im Dunkeln blieben. Die Staatsanwaltschaft beantragte, den Angeklagten der Beleidigung für schuldig zu befinden und ihn zu 20 Tagessätzen á 10 Euro auf Bewährung für ein Jahr zu verurteilen.
 
Die Staatsanwaltschaft beschäftigt ein OLG mit drei Berufsrichter_innen, den Pflichtverteidiger und eigene Staatsanwält_innen sowie alle weiteren erforderlichen Kräfte, um den Freispruch 1. Klasse des Landgerichts in einen symbolischen Schuldspruch mit einer Bewährungsstrafe von 200 Euro zu wandeln. Es dürfte wohl als völlig abwegig gelten, dass hier wesentliche Belange der Allgemeinheit betroffen waren, zumindest was die Schuld des Angeklagten anbelangte, nicht die der Täter in Uniform. In jedem anderen Strafverfahren diesen Tatausmaßes, welches nicht die Vorgeschichte einer Kollusion der Interessen zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft gehabt hätte, wäre es niemals zu dieser Revision gekommen.
Wie geht es weiter?
Immerhin sieht sich die Polizei des Vorwurfs schwerer Straftaten wie Freiheitsberaubung und Körperverletzung ausgesetzt. Auf Frage des Gerichts gab der Verteidiger konsterniert zu Protokoll, dass er aus seiner Akteneinsicht nicht den Eindruck gewinnen konnte, hier werde gegen die Täter in der Polizei ausreichend ermittelt. Die Oberstaatsanwältin wollte sich zum Verfahren nicht äußern, außer dass es im Gange sei.
Führende Ermittlungsbehörde ist in diesem Fall die Polizei Düsseldorf. In Düsseldorf sitzt auch der oberste Dienstherr, Innenminister Herbert Reul. Reuls Staatssekretär Jürgen Mathies, zur Tatzeit noch Kölner Polizeipräsident, stellte höchstselbst als Dienstvorgesetzter gegen Sven W. Strafantrag. Wird sich das Land NRW bei Sven W. entschuldigen und ihm eine Entschädigung anbieten oder wartet man auf seine Klage auf Schmerzensgeld?
Wer sich gemäß dem Kölner Motto „Arsch huh, Zäng ussenander“ den Mitmenschen verpflichtet fühlt, muss aufpassen, dass er nicht schnell selbst zum Opfer – der Staatsgewalt – wird. Ein faires Verfahren, in dem Polizist_innen als Beschuldigte beteiligt sind, ist in Köln mit der bestehenden Staatsanwaltschaft anscheinend nicht zu erwarten.
Es bleibt Sven W. zu wünschen, dass er die Kraft aufbringt, sich aus dieser Malaise zu befreien und die seelischen Narben verheilen zu lassen. Wenn wir ihm dabei helfen, geht es schneller.
 
Köln, 1. März 2020
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