Redebeitrag zur Gedenkkundgebung vom 08.10.2020 anlässlich des Anschlags in Halle 2019

Das Attentat von Halle –
Zusammenhänge von Antifeminismus und Antisemitismus

Redebeitrag auf der Gedenkkundgebung „Kein Vergessen! Kein Vergeben!“ am  08. Oktober 2020
anlässlich des Attentats in Halle vom 9. Oktober 2019 vom Rheinischen Antifaschistische Bündnis gegen Antisemitismus

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Die aktuelle Manifestation autoritärer und rechtsextremer Ideologien auf allen vorstellbaren gesellschaftlichen Ebenen macht es zwingend erforderlich, diese gemeinsam und solidarisch abzuwehren. Die Zusammenhänge von Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und Antifeminismus deutlich zu machen und zu verstehen, sind hierfür eine Grundvoraussetzung.

Dies ist die Basis für eine emanzipatorische und demokratische Gesellschaft, die wir erhalten und verteidigen wollen.

 „Feminismus ist Schuld an der sinkenden Geburtenrate im Westen, die die Ursache für die Massenmigration ist. Und die Wurzel dieser Probleme ist der Jude.“ – Mit diesen Worten beginnt ein Video, das am 9.Oktober 2019 live ins Internet übertragen wurde.

Worte und Video stammen von dem Mann, der in diesem Moment auf dem Weg zur Synagoge in Halle war – mit dem Ziel die Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Halle zu ermorden.

Das sog. Manifest des Attentäters von Halle stützt sich auf Antisemitismus, Verschwörungsideologie, er faselt rassistisch von einem großen Austausch und sieht die Schuld für sein gekränktes Ego und die Legitimation seiner Taten im Feminismus.

An dieser Stelle:

Wir wollen dem Attentäter keine weitere Plattform bieten. Darum verzichten wir auf weitere Zitate desselbigen.

Der Täter ist vielleicht ein Einzeltäter – vielleicht auch nicht – doch in jedem Fall ist das Attentat in einer rechtsterroristischen Kontinuität begangen worden.

Um seinen und den seiner ideologischen Vorbilder von Christchurch, Oslo und Utöya antisemitischen und antifeministischen Hass deutlich zu machen, reicht es dabei völlig aus, die Verschwörungskonstrukte und Ideologien, die zugrunde liegen, zu definieren.

Falls sich unter uns jetzt immer noch welche fragen, warum dieser Redebeitrag die Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und Antifeminismus aufzeigt? – Die Antwort lautet:

Für rechtsextreme Attentäter, wie den von Halle, war Antifeminismus, neben Antisemitismus und Rassismus, ein entscheidendes Motiv für ihre terroristischen Anschläge. Ihr Verschwörungsglaube geht soweit, dass sie behaupten, der Feminismus sei eine gezielt jüdische Erfindung, um die weiße Rasse zu zerstören. Es ist zudem das verachtende Menschenbild, das Antisemitismus und Antifeminismus eint.

Jede Form von Antisemitismus, sei es der historische, der religionsgestützte, der sekundäre, der völkische und auch der israelbezogene, versucht das Leben von Jüdinnen und Juden, jüdisches Leben zu destabilisieren, zu demontieren, zu illegalisieren und in ihrer Existenz u bedrohen.

Antifeminismus hat ebenso wie Antisemitismus das Ziel zu destabilisieren, zu demontieren, zu illegalisieren und die Existenz der davon Betroffenen zu bedrohen.

Antifeminismus ist ein verbindendes Element in rechtsextremen Gedankenwelten. Er weist Zusammenhänge mit Antisemitismus in Ressentiments und politisch-ideologischen Vorstellungen auf.

Neben der Misogynie – einer Vorstellung, die Frau sei in ihrem Sein bereits minderwertig, ist es die Frauenfeindlichkeit, die in bewussten Handlungen und politischen Praktiken darauf abzielt die Diskriminierung von weiblich gelesenen Personen in die Tat umzusetzen. Der Antifeminismus steht für eine unmittelbare Abwehrreaktion auf Emanzipationsansprüche.

Emanzipationsansprüche von weiblich gelesenen Personen werden von Antifeministen, wie es der Mörder und Attentäter von Halle ist, deshalb so vehement abgelehnt, weil sich ihre Definition von Weiblichkeit an männlichen Bedürfnissen zu orientieren hat und dies zu erhalten gilt.

Weibliche Personen haben eine ihnen von Männern zugewiesene Rolle in der Gesellschaft einzunehmen. Die Funktion weiblicher Personen liegt in männlicher Bedürfnisbefriedigung und im Gebären, rechtsextreme, völkische und auch christliche Antifeministen fordern explizit, dass weibliche Personen mit Uterus  selbigen der Produktion von möglichst vielen Volkskörpern zur Verfügung zu stellen haben, um den von ihnen herbeifantasierten „Volkstod“ zu verhindern.

Gestützt werden antifeministische Forderungen auch durch die Bundesrepublik selbst, mit dem Paragraphen 218, nach dem weibliche Personen nicht straffrei und selbstverantwortlich über ihren Uterus und Körper bestimmen dürfen.

Antifeministen glauben ihre heteronormative Vorstellung von der auf 2 Geschlechter begrenzte Geschlechterrollendifferenzierung vor dem Feminismus, also vor emanzipatorischen Ansprüchen in Schutz nehmen zu müssen.

Das Gendern in Schrift und gesprochenem Wort lehnen sie ab. Weiblich gelesene Personen und Geschlechtervielfalt sollen, wenn es nach Antifeministen geht, nicht sichtbar werden und unmündig bleiben. Quotenforderungen in Aufsichtsräten und Chef_innenpositionen werden lächerlich gemacht und vehement verhindert. Gleiche Löhne bei gleicher Leistung? Soll das ein Witz sein?

Antifeministen wollen keine Gleichberechtigung von Frauen und Männern, um mal in ihrer 2geschlechtlichen Definition zu bleiben. Antifeministen wollen männliche Vorherrschaft, wollen kein „Für Alle“, wollen nicht, dass demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität für mehr als Männer gelten.

Weiblich gelesene Personen und LGBTIQ*, die demokratische Werte emanzipatorisch für sich zu beanspruchen versuchen, werden von Antifeministen sowohl öffentlich als auch verdeckt sexistisch lächerlich gemacht, bedroht, psychisch und physisch attackiert und getötet.

Die Vergewaltigungs- und Morddrohungen, unterschrieben vom “NSU2.0”, verschickt an Anwält_innen, Journalist_innen, Kabarettist_innen und  Politiker_innen, – die gezielten Attacken von Rechtsextremisten und Antisemiten, auch aus der Verschwörungsszene, auf weiblich gelesene Wissenschaftler_innen  und  Fridays-For-Future-Aktivist_innen, – die jährlich stattfindenden sog. „Märsche fürs Leben“ in Münster und Berlin, veranstaltet von Holocaustrelativieren und mitgetragen von christlichen Fundamentalist_innen und AfD-Politiker_innen, die um jeden Preis verhindern wollen, das weiblich gelesene Personen mit Uterus über sich selbst bestimmen, – die in der Presse, von der Polizei, der Justiz und in der Öffentlichkeit als „Beziehungstaten“ verharmlosten Vergewaltigungen, Körperverletzungen, Stalking und Femizide an weiblich gelesenen Personen in heterosexuellen Beziehungen, –  homophobe und sexistische Aussagen, zuletzt öffentlich geworden, von Friedrich Merz, Serdar Somuncu und Christian Lindner.

Das alles sind Beispiele für Antifeminismus. Sie machen deutlich, dass der Antifeminismus, wie auch der Antisemitismus, in allen gesellschaftlichen Spektren vorkommt, nicht nur im Rechtsextremismus.

Ja, der rechtsextreme Attentäter von Halle ist einer dieser Antisemiten, Rassisten, Sexisten und Antifeministen. Er hat auf Grundlage dieser menschenverachtenden Motive im Oktober letzten Jahres jüdische und nicht-jüdische, migrantische, weibliche Personen und Menschen, die er zu ihrem Umfeld gezählt hat, angegriffen, versucht zu töten, psychisch und physisch verletzt und 2 Menschen ermordet. –

Was ist unsere Antwort als Gesellschaft darauf?

Wir sind aufgefordert, auch und gerade angesichts der Verbrechen von Halle im Oktober 2019, die politisch-ideologischen Vorstellungen und Ressentiments, die Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und Antifeminismus verbinden, ernst zu nehmen!

Denn sie haben ein starkes Gewalt- und Radikalisierungspotenzial gemeinsam – bis ins Lebensbedrohliche und Mörderische hinein!

Nicht der immer wiederkehrende Ruf nach mehr (!) Polizei und mehr (!) Staat schützt unsere Gesellschaft angesichts rechtextremer Angriffe.

Wir haben es aus den Worten der Betroffenen heute, hier, gehört: Die Angegriffenen mussten erfahren, das ihnen die zustehende Hilfe und Unterstützung von staatlicher Seite verwehrt oder erschwert wurde. Die Bitte der jüdischen Gemeinde Halle um Polizeischutz an Jom Kippur letztes Jahr, wurde von der Polizei als „ nicht notwendig“ abgelehnt.

Wir fordern die deutsche Polizei auf: Gebt jüdischen Gemeinden in Halle, in Köln und überall, den Schutz, den sie von euch zurecht einfordern!

Von Halle geht ein Zeichen aus für den Kampf gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und für Feminismus und für mehr Solidarität.

Die Beispiele von Solidarität der Angegriffenen von Halle für- und untereinander, haben Vorbildcharakter für uns alle!

Die jüdische Studierendenunion Deutschland hat eine Spendenaktion für den Erhalt des kurdischen „Kiez Döner“s ins Leben gerufen.

Das Ehepaar im nahegelegenen Wiedersdorf, das vom Attentäter auf dessen Flucht von ihm angeschossen wurde und die Polizei im Notruf 110 erst überzeugen (!) musste, die Erste Hilfe zu schicken, erhielt von staatlicher Seite keine Unterstützung. Sie werden aber bis heute von der Opferinitiative „Weißer Ring“ betreut und bekamen von einem selbst angegriffenen Mitglied der jüdischen Gemeinde aus Halle praktische Hilfe, um dem Schrecken des Tatorts für eine gewisse Zeit den Rücken zukehren zu können.

Auch von der gemeinsamen Erklärung der Betroffenen, die als Nebenkläger_innen im Prozess auftreten, geht ein starkes Signal aus für emanzipatorische Solidarität, der den Rechtsextremismus und seine Akteur_innen schwächt, zurückdrängt und handlungsunfähig werden lässt.

Antifaschismus und Solidarität müssen praktisch werden!

Eine Gesellschaft, die demokratische Werte verteidigen will, eine Gesellschaft, die aufstehen will gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Antifeminismus, benötigt dafür Sensoren und Werkzeuge. Sensoren, um die Feinde unserer Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität früh zu erkennen – Werkzeuge, um weitere mörderische Absichten unmöglich zu machen!

Antifaschismus, Feminismus und Solidarität sind notwendige Werkzeuge unserer Gesellschaft! Sie machen uns handlungsfähig und schützen uns vor Angriffen auf die Demokratie und auf alle in ihr Lebenden.

 

Wir gedenken der Ermordeten in Halle und solidarisieren uns mit allen Verletzten und Angegriffenen!

 

Wir vergessen nicht – wir vergeben nicht!

 

Für Emanzipation! Für Feminismus! Gegen jeden Antisemitismus!